Schirm - Slava Seidel

 

Schirm

Informationen zur Künstlerin

  • Name: Slava Seidel
  • Geburtsort: Krivoj Rog, Ukraine
  • Geburtsjahr: 1974

Biographie

  • lebte von 1980-2000 in Petrozavodsk und Sankt Petersburg, Russland
  • 1991-95 Studium Innenarchitektur Rerich College Sankt Petersburg, Russland
  • 1996 Arbeit als Bühnenbildnerin
  • 2002-08 Studium Städelschule Frankfurt (Hochschule für Bildende Künste), Klasse Christa Näher
  • lebt und arbeitet in Wetzlar
  • mehrere Stipendien
  • 2018 Phönix-Kunstpreis der evangelischen Akademie Tutzing
     

Informationen zum Kunstwerk

  • Entstehungsjahr: 2011
  • Technik: Sepiatusche auf Papier
  • Original Format: 70 x 100 cm
     



"Slava Seidel hat einen Traum. Sie träumt immerzu – und fängt die Träume ein wie eine Fischerin ihre triefende Beute. Dann reitet sie damit, gleich Amphitrite auf dem Delphin, über ein Meer malerischer Möglichkeiten, stoppt, wenn es ihr Spaß macht, und treibt ihr feuchtes Spiel. Sie tunkt den nächsten Fang in Sepia, beschwört vedutenhaft repräsentative Innenräume mit pinselfeiner Poesie und verströmt sich in Architekturphantasien, wobei die malerische Wirkung der Logik der Perspektive übergeordnet wird. Ihre künstlerische Domäne ist das Capriccio. Eine Zwischenwelt, in der architektonische Gewissheiten weichen, die Wirklichkeit verwirbelt und sich der Bildraum nach oben und unten erweitert wie das Theater im Barock. Horizontal- wie Vertikalbühne sind selbst die Darsteller und spielen phantastische Rollen. Das barocke Theater wurde als eminent geistiges Theater gesehen und als sinnlichstes schlechthin. Seidel betört durch eine Flut von Angeboten zur Transitorik, die nicht als Nachklang erscheinen im illusionistischen Tafelbild, sondern eine Neuschöpfung nach dem Raumerlebnis und virtuos überdrehten Höhenflug der damaligen Zeit bedeuten, die die Gravitation gerne ausblendete. Ihre Bilder sind orchestrale Gedankengebäude. Im Paris des 17. Jahrhunderts wurden Opern zu Bühnenbildern geschrieben, Seidel baut architektonischen Symphonien Bühnen. Sie porträtiert nie Realarchitektur, keine wirklichen Paläste und Theaterbauten, sondern zelebriert erträumte Variationen von ihnen zu sensuellem Gebrauch. Strukturelle Auseinandersetzungen finden über strömende Lichtmetaphorik Niederschlag in ihrer Kunst. Es ist ein Reich, in dem alles geschehen kann und kein Drehbuch nötig ist. Die Kulissen geraten überraschend in Bewegung, die Dramaturgie setzt auf teilhabendes Betrachten. Nichts passiert, wan man einfach nacherzählen könnte, der Bildraum erscheint surreal und schleierhaft. Das Körperlose dieser geträumten Malerei befördert konsequent die Abkehr von der real world, hebt die Trennung von Außen- und Innen auf und die Polyvalenz des barocken Illusionismus auf eine unerwartete Ebene. Wo einst Apoll selbstherrlich in der Sonnenglorie hervortrat, sind neue Protagonisten erschienen und stellen vertraute Hierarchien auf den Kopf. Wild wechselt durch eine Kuppel wie die Sternschnuppe über den Nachthimmel, ein Pferd steigt auf, eine französische Bulldogge gesellt sich zu Versatzstücken von Herrschaftsarchitektur, ein Ritter in Rüstung materialisiert sich geisterhaft vor heller Bildfläche. „Alter Ego“ lautet der Titel dieser Arbeit. Slava Seidel geht zurück in eine ferne Zeit. Verschiedene Stilmittel werden auf ihre Aktualisierbarkeit überprüft. Unausgesprochen ironisch erarbeitet sich eine Neuauflage barocker Errungenschaften. Im Traum betritt diese Undine immer wieder ein Theater. Sie ist ganz allein. Sie begrüßt die Einsamkeit. Ungestört spaziert sie durch die Ränge. Sieht ins Parkett hinunter, in die Kuppel hinauf, da sind keine Menschen., bloß Tiere. Hühner, ein Schwein. Ihr schwindelt. Wo kommt der Kosmonaut her? Ist er der Held vom anderen Stern? Eine Spielfigur oder der Erlöser? Der letzte Überlebende? An welchem Schnürboden hängt die Realität? Würgt sie im Orchestergraben an dem Streich, der ihr gespielt wird, wenn alles fließt und die Kulisse verschwimmt, oder hockt sie auf der Hinterbühne? Erwartet sie die Maske in der Garderobe oder hält sie sich im Stuckmarmor verborgen – lauert im Kristalllüster vielleicht? Ist sie dann aufgewacht, legt die Träumerin die Leinwand auf den Boden. Sie stellt sich darüber in gebeugter Haltung. Sie mag die Arme nicht anwinkeln, um zu malen. Sie lässt sie schwingen. Holt weit aus, um ordentlich in Schwung zu kommen, malt mit dem ganzen Körper, tanzt, wenn sie malt. Riesig ihr Radius. Slava Seidel steht da wie Jackson Pollock. Es gibt kein Limit für sie. Sie pendelt nach rechts und links, Standbein, Spielbein, Ausfallschritt: Ihre Arbeiten sind auch gymnastisches Treiben. Sie verwendet ausschließlich Sepiatusche, gibt reichlich Wasser aufs Bild, lässt Rinnsale zu, ja, das Wasser soll stehen, Pfützen bilden. Sie fertigt keine Entwurfszeichnungen, verschreibt sich fast faustisch der wässrigen transparenten Maltechnik. Wenn alles fließt, tropft, miteinander reagiert, dann ist es gut. „Skizzen würden Energie von meinen Arbeiten abziehen“, sagte sie, „Impuls braucht keine Zwischenstation, er führt direkt zum Ziel.“ Seidel ist eine Alchimistin und Raumzauberin. Ihr sensualistischer Malduktus, die ungezwungene Pinselschrift folgt ihrer Empfindung. Seidel gestaltet inneren Barock. Greifbare Körperlichkeit ist kein Ziel, auch nicht die Vergegenwärtigung des Gegenstandes in seiner Dinghaftigkeit. Vielmehr das Fluide, Impulsive, das Schneegestöber emotionaler Bewegtheit. Inwieweit das Ergebnis verschlüsselt ist und allegorisiert zu denken, entscheidet das Publikum. Hat Tiepolo geträumt? An die visionären Raumkonstruktionen des Lichtmagiers und Meisters noblen Kolorits knüpft Seidel an. Wie für Piranesi ist für sie die Invenzione wichtig, der eigene Einfall. Der Barock ist nur die Bezugsgröße. So überblendet sie schon mal Gotik und Barock: „Ich habe gespielt“, sagt sie dann. Spielraum ist der Titel einer Bilderserie. Dabei geht es immer auch um Schutzraum – wie ihn selbst die Ritterrüstung darstellt. Dem allgemeinen Orientierungsbedürfnis kommt Seidel nur insoweit entgegen, als es nicht kollidiert mit ihrer kreativen Betrachtung von Schwebezuständen. Ihre Kunst passt in unsere Epoche schnellen Wandels, die Hochgeschwindigkeitsepoche schlechthin, das megadynamisierte Zeitalter, in dem der Traum verlässlicher sein kann als das in der Außenwelt gerade erst Gesehene und schon wieder Ausradierte. Die großen Erwartungen dieser Welt, sublimiert in der Sinnlichkeit ausufernder Feuchtgebiete, finden sich in Seidels Kulissenarchitektur. Ihre Komposition ist kluge Inszenierung. Die Poetik des Raums ergibt sich aus den Launen des Pinsels, den reichen Valeurs. Die Sepiatinte erscheint bräunlich, Wasserlachen schimmern bläulich. Die Sepiatechnik schafft Distanz zum Betrachter, wie sie auch zwischen Parkett und Bühne besteht. Wie auf jener wird auch bei Seidel etwas vorgestellt in moralischer Absicht. Sie begreift den Theatersaal als Weltbildmetapher, jedoch stehen diesmal Tiere für Verhaltensmuster und Emotionen. Sie machen Raumsprünge, Traumsprünge, sind Stellvertreter. Seidels malerischer Vortrag ist das eigentliche Drama – ganz im Sinne barocker Stilreform. Die verflüssigte Maltechnik – die Künstlerin pflegt eine virtuose Hygromalerei mit zeichnerischen Elementen – bewirkt die Sogwirkung, die sie anstrebt: Bei Slava Seidel kann man in den Himmel fallen wie in einen Brunnen. Unterdessen sind die verschieden umgesetzten Rauminhalte Codes, chiffrierte Erkenntnisse, sie bahnen den Zugang zur Seele. Nicht nur zu derjenigen der Träumerin. Der Bildbetrachter erreicht über Verknüpfungsmuster ebenfalls Regionen, die sonst blockiert sind. Ihren ersten Palast hat Seidel mit zehn geträumt. Als sie später während ihrer beruflichen Tätigkeit in einem Fernsehstudio die Scheinwelt in statu nascendi kennenlernte, träumte sie nicht nur davon, in eine Kuppel zu fliegen, sie erinnert sich auch an diese Begebenheit: „Ich war auf dem Mond und habe dort etwas gebaut.“ Das Gespür für die mitunter notwendige Absonderung des Individuums von der Masse, ausgedrückt in gähnend offenen Bogenstellungen und menschenleeren Requisitenphantasien wie aus dem Malersaal der Theater, blieb ihr. Raum-zeitliche Ambiguität ist ihr Programm ebenso wie das kapriziöse Moment. Daphne du Maurier in ihrem Roman „Rebecca“: „Gestern Nacht träumte mir, ich sei wieder in Menderley. Ich sah mich am eisernen Tor der Einfahrt stehen, und ich konnte zuerst nicht hineingelangen, denn der Weg war mir versperrt. Schloß und Kette hingen am Tor. Ich rief im Traum nach dem Pförtner … Dann aber besaß ich plötzlich wie alle Träumer übernatürliche Kräfte, und wie ein körperloses Wesen durchschritt ich das Hindernis.“ Ähnlich legt der Barock als Kunst, seelische Fluktuation zu verbildlichen gleich Literatur und Traum, ungeahnte Kräfte frei. Slava Seidel angelt sie sich. Sie ist eine Malerin unserer Zeit und produziert emanzipierten Barock."

Dorothee Bähr-Bogenschütz aus dem Katalog „Slava Seidel – sepia“ (Herausgeber: Jörg Heitsch Galerie, München, 2008)